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Lange her

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schwarzeMoewe's avatar
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„Oma lebt noch!“

Mit diesem kurzen Satz hat alles angefangen. Oder hat damit alles aufgehört?

Allein die Erinnerung bewirkt, dass ich mich umdrehe, um misstrauisch die Straße entlang zu blicken. Da ist nichts. Die kleinen Drohnen beachten mich nicht. Keinen von uns. Natürlich nicht. Die Sache ist vorbei. Schon seit Jahren vorbei.

Aber es fühlt sich nicht so an.

Ich strecke mich, die Hände in den Rücken gestemmt. Es knackt vernehmlich und Thomas blickt besorgt von seinen Hausaufgaben auf. Seine helle Kinderstimme ist inzwischen tiefer geworden. Er wird in diesem Jahr sein Abitur ablegen. Seine Noten sind hervorragend und seine Lehrer wundern sich, warum er keinen Studienplatz bekommt.

Ich weiß warum. Aber ich habe es ihm nicht erzählt und ich werde es ihm nicht erzählen. Niemals.

Ich schüttele den Kopf und winke mit einem Lächeln ab, bevor mein Sohn beunruhigt nach meinem Zustand fragen kann. Es freut mich, dass ich ihn noch einmal auf meiner Terrasse unter den Apfelbäumen sitzen sehe. Meistens ist er ungebärdig und gibt sich unnahbar wie alle Jungen in seinem Alter. Heute aber sitzt er da mit seinem kurzen, dunklen Haar und den mandelförmigen, schwarzen Augen seiner Großmutter. Heute kann ich ihn ihm das sehen, was sein Vater gewesen ist.

Das, was uns beinahe den Hals gekostet hat – und uns noch immer in den Ruin treibt.

Behutsam lasse ich mich auf die Knie sinken und nehme das kleine Küchenmesser wieder auf, mit dem ich die Fugen zwischen den Steinplatten von Moos und Unkraut befreie. Es ist diese Aufgabe, die Ben und ich uns immer geteilt haben, weil sie so unglaublich langweilig ist, dass wir sie allein nicht durchstehen konnten. Damals jedenfalls nicht. Damals, als wir uns dabei noch unbeschwert unterhalten konnten. Damals, als man auf der Straße noch äußern konnte, was man wollte, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

Das war noch gar nicht so lange her. Trotzdem schienen die meisten Menschen sich nicht mehr daran zu erinnern. Oder sie wollten es nicht. Damals hatte es neben dem Supergrundrecht Sicherheit noch andere Rechte gegeben. Bewegungsfreiheit zum Beispiel. Schutz vor Diskriminierung. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Pressefreiheit.

Alles weg. Geopfert, um den Terrorismus zu bekämpfen. Den Terrorismus!

Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht noch einmal über die Schulter zu sehen. Zwar können die Drohnen noch keine Gedanken lesen – das sagen jedenfalls die offiziellen Quellen – aber sie entdecken gewisse Verhaltensmuster. Ich habe wirklich keine Lust, ein weiteres Mal ins Fadenkreuz zu geraten. Ich werde hier fleißig das Unkraut in meinem Garten zupfen, mich über meine knorrigen Bäume freuen, die zu alt sind, als dass irgendeine Behörde sie ohne mein Einverständnis fällen darf, und in Erinnerungen schwelgen. Ich bin harmlos.

Aber das war ich damals auch schon. Jedenfalls vor diesem Vorfall.

Ich habe Yasmin nicht geglaubt, als sie sagte, dass sie verfolgt werde. Sie und ihr Sohn Ben, mein Mann, sie hatten schon immer eine Tendenz zu Verschwörungstheorien. Oftmals musste ich darüber lachen, doch meistens stellten sie sich kaum ein paar Monate später als wahr heraus. Ich kann mich an so manchen Abend erinnern, an dem ich blass vor unserem Fernseher stand und die Bilder und Interviews vom neuesten Skandal in der Tagesschau verfolgte.

Und dann stand sie plötzlich vor uns. Eines Nachmittags. An der Hintertür, blass, verschwitzt, mit ihrer XXL-Tasche, eine Kreuzung aus Laptop- und Sporttasche, in der sie alles unterbrachte, was sie als Reporter ohne Grenzen benötigte. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt längst in Kairo sein sollen, doch bevor wir sie danach fragen konnten, hatte sie sich schon aufgebracht an uns vorbei in die Wohnung geschoben.

„Schaltet den Fernseher ein! Macht das Radio an! Lest die Nachrichten im Internet! Tut irgendetwas!“

Wir standen noch immer verblüfft in der Küche, an der Hintertür, da hörten wir bereits das leise Summen des Fernsehers. Sie hatte ihn selbst angestellt. Es liefen Sondernachrichten. Es ging um einen Flugzeugabsturz. Nein, kein Absturz. Ein Abschuss. Und es war ihr Flugzeug. Von Frankfurt nach Kairo.

Es war einer der schlimmsten Abende meines Lebens.

Bis spät in die Nacht saßen wir im Wohnzimmer und berieten. Irgendwann begannen Bilder von Yasmin über den Plasmabildschirm zu flackern, die ersten Nachrufe tauchten auf. Texte, die ihr Engagement hervorhoben, selbst in dieser schlimmen Zeit des Terrorismus vehement für die Pressefreiheit einzutreten.

„Sie glauben, sie haben es endlich geschafft“, hatte Yasmin geknurrt.

Für einen Moment hatte ich tatsächlich Angst vor ihr. Vor ihr mit ihren wirren, vom letzten schwarz durchzogenen, grauen Haaren. Vor den intelligenten, dunklen Augen mit den Krähenfüßen und der kämpferisch gerunzelten Stirn. Sie erging sich in einem Schwall arabischer Flüche, die nicht einmal Ben richtig verstand – und die einer Frau aus ihrem Kulturumkreis garantiert nicht angemessen waren.

Schließlich wechselte sie wieder ins Deutsche: „Sie glauben tatsächlich, sie haben mich umgebracht!“

Und sie gedachte, es dabei zu belassen. Ben schlug vor, eines unserer Gästezimmer für sie herzurichten und sie zu verstecken, bis sich der Wirbel gelegt hatte und sie das Land verlassen konnte. Es kostete uns einiges an Überredungskunst, doch schließlich stimmte sie zu.

Eine Woche später fand ihre Beerdigung statt.

Es war ein gespenstisches Gefühl, eine Frau zu verabschieden, von der ich wusste, dass sie von ihrem Zimmer aus gerade mithilfe diverser Anonymisierungsprogramme im Internet surfte, Kontakte auffrischte und ihre Recherchen fortsetzte. Trotzdem spielten wir mit. Selbst den kleinen Thomas hatten wir mitgenommen. Er saß auf Bens Arm und blickte mit großen, neugierigen Augen in die Welt. Es war sein Anblick und der Gedanke an seine Zukunft, die mich zum Weinen brachten, nicht der Gedanke an meine verstorbene Schwiegermutter.

Irgendwann stieß Ben mich leicht an und machte mit den Augen eines der Zeichen, mit deren Hilfe wir uns schon von Anfang an so gut verständigt hatten. Nicht weit von uns standen zwei Männer in Zivil, die absolut nicht in diese Umgebung passten. Sie nickten uns zu und kamen näher.

Es war dieser Moment, in dem Thomas die verhängnisvolle Frage stellte. Ich weiß keinen einzigen Satz mehr aus der Predigt, den Beileidsbekundungen oder dem bedächtigen Geplauder nach dem Begräbnis, aber dieser kurze Dialog … er hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Sein kurzer Finger zeigte auf den Altar. „Warum ist da ein Bild von Oma auf dem Tisch?“

„Deine Oma ist gestorben“, flüsterte Ben unserem Sohn beruhigend ins Ohr. Er neigte sich ein wenig vor und strich dem Vierjährigen über den Kopf. Bei der Erinnerung bekomme ich noch heute eine Gänsehaut. Heute weiß ich: Er hat es gewusst. Er hat gewusst, wie es kommen würde.

„Jetzt sei still“, murmelte er gedämpft.

Thomas schwieg tatsächlich einen kleinen Moment lang. Dann aber sagte er ernst: „Aber das versteh ich nicht. Oma ist doch bei uns zu Hause!“

Ich war wie vom Donner gerührt.

Thomas setzte nach: „Sie lebt doch noch!“ Er zupfte an Bens Ärmel, weil der nicht reagierte. Nicht reagieren konnte. Was hätte er tun sollen? „Oma lebt noch! Das müssen wir dem Mann sagen, Papa!“ Er meinte den Priester, aber interessiert waren an diesen Worten zwei vollkommen andere Männer. Männer des Systems.

Zwei Männer wie die, die in diesem Moment aus dem Auto steigen, das an der Straße steht. Ich kann einen dritten Mann sehen, der am Steuer sitzen bleibt. Meine Gebete werden nicht erhört, sie kommen direkt auf mich zu. Ich komme schicksalsergeben auf die Beine.

„Sind Sie Frau Aziz?“

Ich sehe dem Mann an, dass er sich über meine blonden Haare und meine blauen Augen wundert. Sie passen nicht zu dem arabischen Nachnamen, den ich noch immer trage. Ich nicke.

„Wir kommen, um die Eignung Ihres Sohnes für ein Studium zu prüfen.“

„Ich weiß“, sage ich und halte ihnen das Gartentor auf. Meine Kehle wird mir eng, aber ich schaffe es trotzdem zu lächeln. „Kommen Sie doch rein.“

Ich spüre ihre misstrauisch prüfenden Blicke. Wie selbstverständlich sorgen sie dafür, dass ich in ihrer Mitte gehe, doch ich bin harmlos. Ich winke Thomas. Er beschwert seine Hausaufgaben mit seinem Wasserglas, damit der Wind sie nicht fort weht, und schließt sich uns an. Es sind ein paar Schritte bis zur Eingangstür. Die ganze Zeit über starre ich auf den Rücken des Mannes vor mir und muss daran denken, wie diese Männer vor all diesen Jahren in unser Haus eingedrungen sind.

An diesem Abend sah ich Ben zum letzten Mal.

Thomas glaubt, sein Vater hat uns verlassen, aber ich weiß es besser. Ich werde ihm nichts sagen, denn er ist ein hitziger Junge, der zu einem intelligenten, charismatischen jungen Mann heranwächst. Er kann zu einer Bedrohung werden, das erkennt jeder, der ihm begegnet. Aber wenn er nichts weiß, ist er keine Gefahr. Und ich werde ihn nicht in Gefahr bringen.

Es hat eine Zeit gegeben, in der ich Yasmins Kampf um die Freiheit unterstützt habe. Mit allem was ich hatte. Mit wirklich allem.

„Du kämpfst wie eine Löwin“, haben sie zu mir gesagt. Damals, als ich noch gehofft hatte, durch Mut und Durchsetzungsvermögen meine Familie wieder zusammenzufügen. „Du bist deiner Schwiegermutter würdig.“

Ich bitte die beiden Männer ins Haus und biete ihnen Kaffee an.

Wie eine Löwin …

Ja, das ist schon ziemlich lange her.

Meine DA-Statistik sagt, dass ich nur alle zwei Monate einen Text hochlade. Das ist eigentlich viel zu wenig für das, was hier alles noch so herumliegt. Also schauen wir mal, dass ich ein bisschen was nachhole. :)

Das hier einer meiner ernsteren Texte, an den ich mich wegen aktueller Ereignisse (und sprachschulischer Unterstützung ;)) erinnert habe. Wer mehr über Pressefreiheit in Zeiten der sogenannten Lügenpresse und die Reporter ohne Grenzen erfahren möchte, dem sei gesagt, dass sich ein zweiter Blick auch hier lohnt.

Zum angenehmeren Teil. Der Text hier ist im August 2013 entstanden, wenn die Datumsangabe korrekt ist und das jemanden interessiert. ;) Entstanden ist er in einem mehr oder weniger erfolgreichen Kurs für Kreatives Schreiben. Die Aufgabenstellung war recht klassisch. Der erste Satz („Oma lebt noch!“) muss zum letzten führen („Das ist schon ziemlich lange her.“). Zwei Wochen Zeit. Wer möchte, darf sich der Herausforderung gern stellen und mir dann bescheid sagen. (Ich freu mich!) Das hier ist jedenfalls mein Ergebnis.

Viel Spaß damit! Kritik und Anmerkungen jeder Art sind natürlich wie immer gern gesehen. :)
© 2016 - 2024 schwarzeMoewe
Comments3
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Tutziputz's avatar
Vielleicht hätte ich die Geschichte nicht gerade heute lesen sollen - am Abend des Tages als der Rechtspopulist Trump zum Präsident der USA und mächtigsten Mann der sogenannten freien Welt gewählt worden ist.

Irgendwie war dieses kleine fiktive - und doch so erschreckend wirklich wirkende - Stück heute zu viel für mich. Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Wohin wird unsere Gesellschaft gehen?Shiver